Es ist ein Ort, an dem Stille eine eigene Sprache spricht und der Horizont sich endlos in Weiß verliert. Die Antarktis, ein Kontinent ohne Siedlungen, ohne Geschichte und doch von immenser Bedeutung für die Menschheit. Hier, wo die Temperaturen lebensfeindlich und die Dunkelheit monatelang allgegenwärtig ist, wird geforscht. Die Neumayer-Station III des Alfred-Wegener-Instituts steht wie ein fremdartiges Raumschiff auf Stelzen im Eis. Sie trotzt den Stürmen, die das Haus erbeben lassen, und beherbergt eine Handvoll Menschen, die der Welt für ein Jahr den Rücken kehren. Aurelia Hölzer war eine von ihnen.
Als Stationsleiterin überwinterte die Gefäßchirurgin 2022 mit ihrem Team in der Isolation der Antarktis. Es war ein Leben zwischen Dunkelheit, Forschungsprojekten und einer Natur, die dem Menschen kein Zuhause bietet. Die Station, mit OP-Saal, Labor und Werkstätten ausgestattet, wirkt wie ein technisches Wunderwerk – doch alles, was hier passiert, ist von pragmatischer Einfachheit geprägt. Wer auf der Neumayer-Station lebt, hat keine Wahl. Es gibt kein „mal eben raus“, kein „ich geh dann“. Wer krank wird, bleibt; wer zweifelt, muss sich selbst zurechtweisen.
Die Stille der Antarktis ist überwältigend – sie hat eine eigene Schönheit und eine Kraft, die man nirgendwo sonst findet.
Aurelia Hölzer
Doch warum zieht es Menschen in diese Kälte? Das Alfred-Wegener-Institut hat eine klare Antwort: Die Polarregionen sind die Katalysatoren des Klimas. Hier entstehen Wetterphänomene, die unser Leben bestimmen, und hier liegen die Daten, die verstehen helfen, wie das System Erde funktioniert. Die Forschungsstation ist Teil dieses Puzzles, ein einsamer Beobachter in der größten Kälte der Welt.
Der Raum, der alles verschluckt
Für die kleine Gruppe, die sich in diesem „Raumschiff“ einquartiert, zählt nur eines: Gemeinschaft. „Das Soziale ist der Dreh- und Angelpunkt der mentalen Gesundheit“, erklärt Hölzer. Wer ein Jahr lang zusammenarbeitet, improvisiert und lebt, muss die kleinen Konflikte schlucken und die Gemeinsamkeiten feiern. „Wir hatten alle Bock auf das Abenteuer“, sagt sie. Der Alltag bestand aus Routinen: Wetterberichte auswerten, Fahrtrassen markieren, Sicherheitschecks durchführen. Die Dunkelheit zerrt am Geist, die Eiseskälte an der Haut. Doch trotz allem bleibt die Schönheit der Antarktis – eine Schönheit, die Hölzer als „außerirdisch anmutend“ beschreibt. Es sind die Polarlichter, die die Dunkelheit erhellen, die Stürme, die das Haus erschüttern, und die Stille, die das eigene Ich in den Hintergrund drängt.
„Man wird rausgezoomt“, erzählt Hölzer. In der Isolation wird die eigene Wichtigkeit zur Nebensache, die Natur erteilt eine stille Lektion über Zeit und Bedeutung. Wer hier lebt, denkt nicht mehr an den Alltag, an die Hektik der Menschenwelt. Stattdessen bleibt Raum für Wesentliches: „Nett zueinander sein, sich gegenseitig helfen, die Dinge einfach nehmen, wie sie sind.“
Ein Geschenk auf Zeit
Zurück in Deutschland hatte es Hölzer schwer, sich wieder einzufinden. „Es hat Monate gedauert, bis ich die Menschenwelt wieder annehmen konnte“, erzählt sie. Die Enge, der Lärm, das Tempo – all das prallte wie ein Fremdkörper auf sie. Die Perspektive aus der Antarktis bleibt: Der Mensch ist nur ein winziger Punkt im Universum, die Zeit läuft unaufhaltsam. Wer in der Antarktis lebt, lernt, Prioritäten neu zu setzen.
Die Polarlichter, die Stürme und die endlosen Sonnenuntergänge – das sind Momente, die ich nie vergessen werde.
Aurelia Hölzer
Hölzer hat ihre Erlebnisse in dem aktuellen Bestseller „Polarschimmer“ festgehalten. Das Buch erzählt nicht nur von Stürmen und Polarlichtern, sondern auch von den tiefen Erkenntnissen, die eine solche Isolation mit sich bringt. Es ist eine Hommage an die unbändige Schönheit der Antarktis und die Kraft menschlicher Gemeinschaft.
Im Gespräch mit der Autorin wird klar: Die Antarktis verändert Menschen. Und vielleicht braucht es genau das – einen Schritt ins Nichts, um zu verstehen, was wirklich wichtig ist.
Fotoquellen: Markus Schulze, Michael Trautmann, Hannes Keck