ein Schritt in einen neuen Markt. Es ist eine tektonische Verschiebung in der Architektur der digitalen Macht.
OpenAI, der Schöpfer von ChatGPT, arbeitet laut übereinstimmenden Berichten an einer Plattform, die als Alternative zu X, dem von Elon Musk übernommenen Twitter-Nachfolger, gedacht ist. Was auf den ersten Blick wie ein weiteres Netzwerk im überfüllten Kosmos der sozialen Medien wirkt, offenbart auf den zweiten Blick eine machtpolitische Entscheidung – technologisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich.
Denn die Zeit der unpolitischen Plattformen ist vorbei. Wer heute ein soziales Netzwerk baut, entscheidet mit darüber, was als Wahrheit gilt, welche Debatten geführt werden – und wer gehört wird.
Wer die Aufmerksamkeit besitzt, formt das Weltbild
Elon Musk hat mit der Übernahme von Twitter gezeigt, wie sehr ein soziales Netzwerk zur Bühne für Ideologie, Meinungsmacht und Desinformation werden kann. Sein Umbau der Plattform in ein System, das zwar mehr Meinungsfreiheit verspricht, in der Praxis aber Radikalen und Demagogen Raum gibt, hat eine Lücke entstehen lassen. Genau hier scheint OpenAI nun anzusetzen – nicht unbedingt mit der Absicht, ein besseres Twitter zu bauen, sondern mit dem Ziel, ein neues, KI-gestütztes Informationssystem zu etablieren.
Ein System, das sich nicht auf menschliche Moderatoren stützt, sondern auf Algorithmen, die durch maschinelles Lernen ständig dazulernen. Ein System, das – wie intern diskutiert wird – stark visuell geprägt sein könnte, etwa durch Bildgenerierung. Es wäre eine Plattform, auf der nicht nur Menschen Inhalte teilen, sondern auch Maschinen mitreden.
Die Logik der Daten und das Problem der Kontrolle
OpenAI benötigt Daten. Die besten Trainingsdaten für große Sprachmodelle stammen nicht aus Lexika oder Enzyklopädien, sondern aus dem echten Leben: aus Diskussionen, aus Emotionen, aus Alltagssprache. Ein eigenes soziales Netzwerk wäre ein unerschöpflicher Quell menschlicher Ausdrucksformen – und zugleich ein Werkzeug zur Konditionierung der Nutzer. Denn je mehr die KI versteht, wie Menschen interagieren, desto subtiler kann sie Inhalte formen, verstärken oder dämpfen.
In einer demokratischen Gesellschaft stellt sich hier sofort die Frage nach der Kontrolle. Wer entscheidet, was sichtbar ist? Wer schützt Minderheiten vor algorithmischer Unsichtbarkeit? Wer bewahrt die Grenze zwischen nützlicher Assistenz und manipulativer Einmischung?
Wenn aus einem Technologieanbieter ein Kurator der gesellschaftlichen Debatte wird, muss sich die Öffentlichkeit einmischen. Es reicht nicht, den Machern blind zu vertrauen – ganz gleich, ob sie Musk oder Altman heißen.
Europa am Rand
Auffällig ist, dass diese Debatte fast ausschließlich in den USA geführt wird. Dort, wo Kapital, Visionen und Risikobereitschaft zusammenkommen. Europa, einst mit ethischen Debatten zur digitalen Souveränität auf dem Podium präsent, schaut von der Seitenlinie zu. Die europäische Antwort auf diese Machtverschiebung ist Regulierung – das ist wichtig, aber es ersetzt keine eigene Strategie.
Wenn OpenAI ernst macht und mit einem eigenen Netzwerk an den Start geht, wird das keine App unter vielen sein. Es wird ein neuer Versuch, die Kontrolle über unsere Kommunikation, unsere Aufmerksamkeit und damit über unser kollektives Bewusstsein zu gewinnen. Dass dieser Versuch ausgerechnet aus dem Herzen der KI-Industrie kommt, macht ihn nicht ungefährlicher – sondern dringlicher.
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