Michael Thumann

Michael Thumann über Russland, Putin und den neuen Eisernen Vorhang

Krieg, Grenzen und Ideologie

Wladimir Putin verfolgt ein Ziel, das sich nur schwer greifen lässt, weil es keine klar definierte Grenze kennt. Er will Einfluss, Kontrolle, Macht – nicht nur über die Ukraine, sondern über ein Europa, das er als geschichtsvergessen und schwach betrachtet. Seine Handlungen folgen dabei keiner großen Strategie, sondern der Logik von Gelegenheiten. „Putin wird das machen, was ihm möglich ist und was er für erreichbar hält“, sagt Michael Thumann, Leiter des Moskauer Büros der ZEIT. Der Journalist berichtet seit vielen Jahren aus Russland und hat beobachtet, wie sich aus anfänglichen Grenzverschiebungen eine umfassende ideologische Frontstellung entwickelt hat – ein neuer eiserner Vorhang, weiter östlich zwar, aber nicht minder kalt.

Dass Russland die Ukraine nicht vollständig einnehmen konnte, ist für Putin kein Grund zur Umkehr. Vielmehr wird das Scheitern rhetorisch zum Erfolg umgedeutet. Man nehme nicht alles ein, weil man es nicht wolle – so das offizielle Narrativ. In Wahrheit fehlt es an militärischer Kapazität, an internationaler Rückendeckung und an innenpolitischer Stabilität. Dennoch bleibe die Gefahr bestehen, warnt Thumann, dass sich das russische Expansionsdenken auch auf andere Länder ausdehnen könne – sobald sich die Gelegenheit bietet.

Ein Land in Gleichgültigkeit

Während im Westen über Waffenlieferungen, Eskalationsszenarien und diplomatische Wege debattiert wird, hat sich innerhalb Russlands ein anderer Zustand eingestellt: Gleichgültigkeit. Zu Beginn des Krieges habe es in Russland noch Schock und Nachdenklichkeit gegeben, so Thumann. Heute sei davon kaum noch etwas spürbar. „Die Stimmung in Russland ist in Gleichgültigkeit gekippt. Eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem, was da geschieht.“

Ich glaube, wir sind dem Frieden noch sehr fern, weil die Voraussetzungen dafür auf russischer Seite nicht gegeben sind.

Michael Thumann

Dazu beigetragen hat auch die Strategie des Regimes, eine Fassade der Normalität aufrechtzuerhalten. Die Menschen sollen weiterleben können, als sei nichts. Opferzahlen werden verschleiert, Verletzte versteckt, Vermisste nicht gemeldet. Die Vermeidung öffentlicher Trauer dient der Stabilität. Die Propaganda übernimmt den Rest: Im Fernsehen wird der Krieg zur Spezialoperation verniedlicht und als steter Sieg inszeniert – ohne je den finalen Sieg zu erklären. Eine widersprüchliche Logik, die von vielen akzeptiert wird, solange sie das eigene Leben nicht unmittelbar betrifft.

Gleichzeitig hat sich das gesellschaftliche Klima stark verändert. Der Raum für kritische Stimmen ist geschrumpft, neue Gesetze schränken Berichterstattung und kulturellen Austausch massiv ein. „Die Zensur ist gesetzlich geregelt“, sagt Thumann. Wer über die Armee nicht im Sinne der offiziellen Linie schreibt, riskiert Sanktionen. Museen, Stiftungen, Institute – viele einst lebendige Verbindungen nach Europa sind unterbunden oder zerschlagen. Selbst gemeinsame Trauerarbeit auf Kriegsgräberfeldern wird politisiert. Es ist ein Rückzug auf ein nationales Selbstbild, das keinen Widerspruch duldet.

Putinismus ohne Putin?

Was aber, wenn Putin nicht mehr da ist? Ein Szenario, das viele westliche Politiker mit Hoffnung verbinden – zu Recht? Vielleicht, aber nicht zwangsläufig. Denn der Putinismus, also jene Ideologie der Stärke, der Abgrenzung und des imperialen Denkens, hat sich tief ins System gefressen. Schulen, Universitäten, Medien – alles ist durchzogen von einem einheitlichen, staatlich verordneten Weltbild. Dennoch: „Nachfolger in Russland machen gerne alles anders als ihre Vorgänger“, meint Thumann. Die Geschichte gebe dafür zahlreiche Beispiele. Auch ein nationalistischer Nachfolger könnte sich von Putin abgrenzen – nicht aus Überzeugung, sondern zur Legitimation.

Dabei steht Russland heute isolierter da als in früheren Zeiten. Während die Sowjetunion im Kalten Krieg noch auf ein Netz von Verbündeten bauen konnte, ist Putins Russland auf sich allein gestellt. Was die Sache nicht ungefährlicher macht, im Gegenteil: Isolation und Kränkung sind ein schlechter Ratgeber für politische Entscheidungen. Und anders als in der Vergangenheit ist dieser Konflikt nicht kalt, sondern heiß – und das nicht nur in der Ukraine. Der hybride Krieg gegen Europa, gegen Meinungsvielfalt, gegen die Idee eines friedlichen Zusammenlebens ist längst im Gange.

Michael Thumann hat viele dieser Entwicklungen nicht nur analysiert, sondern auch erlebt. In seinem Buch „Eisiges Schweigen flussabwärts“, das im Frühjahr erschienen ist, beschreibt er eine Reise von Moskau nach Berlin – eine Reise entlang der neuen Trennlinien Europas. Die Beobachtungen auf diesem Weg erzählen von Grenzkontrollen, bürokratischen Repressionen, überraschenden Begegnungen – und von einem Europa, das dabei ist, seine östliche Seele zu verlieren. Seine Berichte zeigen, wie sehr sich das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen verändert hat – und wie wenig heute von jenem Dialog übrig ist, der einmal selbstverständlich schien.

Fotoquelle: Henning Kretschmer für DIE ZEIT

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