OMR 2025 in Hamburg

OMR 2025: Zwischen KI-Hype und Menschlichkeit

Wie Marketing zur Gesellschaftsdiagnose wurde

Der Hamburger Himmel zeigte sich zunächst grau, als sich am 06. und 07. Mai 2025 rund 70.000 Menschen in die Hallen des Messegeländes drängten. Drinnen aber leuchtete die Zukunft – oder zumindest das, was sich als solche ausgibt. Es war OMR-Zeit. Die „Online Marketing Rockstars“, längst ein Monolith der Digitalszene, haben gerufen, und alle sind gekommen: Agenturchefs, CDOs, Gründerinnen, Meme-Manager, Reality-Stars, Venture-Kapitalisten, Journalisten. Und Ryan Reynolds.

Die OMR 2025 war, das muss man der Fairness halber sagen, ein Ereignis. Ein Festival mit Ernsthaftigkeit, wenn man genau hinhörte – irgendwo zwischen „How To Go Viral“ und „Let’s Talk AI Ethics“. Der Hype um künstliche Intelligenz war omnipräsent. Kein Panel, das nicht „GenAI“ beschwor, keine Masterclass ohne Midjourney-Slides, keine Bühne ohne ChatGPT. Und doch lag über all dem digitalen Glanz ein leiser Zweifel.

Zwischen Datenpunkten und Dialogbedürfnis

Denn der Fortschritt, so viel wurde deutlich, frisst seine Kinder. Oder formt sie zumindest um. Die Marketingwelt, einst ein Tanz der kreativen Exzesse, wirkt zunehmend technokratisch. Automatisierung ersetzt Inspiration, Performance-KPIs regieren über Menschenkenntnis. Wer heute erfolgreich sein will, muss programmieren, prompten, prognostizieren. Es geht nicht mehr um Zielgruppenverständnis, sondern um Lookalikes und Datenpunkte. Zwischenmenschlichkeit? Ein Nice-to-have im Zeitalter des Algorithmus.

Und doch: Gerade dieser Widerspruch wurde zum roten Faden der Konferenz. Immer wieder durchbrachen Stimmen das KI-Korsett – sei es Basketball-Legende Dirk Nowitzki, der mit seiner ruhigen Präsenz mehr Menschlichkeit auf die Bühne brachte als mancher Chief Inspiration Officer, oder eben Ryan Reynolds, der zwar eine eigene Agentur betreibt, aber mit Humor und Authentizität zeigte, dass Markenbindung immer noch über Emotion funktioniert.

KI als Heilsversprechen – und als Mahnung

Ein besonderer Höhepunkt war der Auftritt von Nick Turley, Head of Product bei ChatGPT. Der gebürtige Itzehoer und heutige Silicon-Valley-Manager sprach auf der Hauptbühne über die Zukunft der KI – und über ihre Grenzen. Turley betonte, dass Deutschland für OpenAI einer der wichtigsten Märkte sei und widersprach der oft kolportierten These, Europa hinke bei KI hinterher . 

Er sprach über die Entwicklung von ChatGPT, die Integration von Gedächtnisfunktionen und die Vision eines persönlichen KI-Assistenten, der proaktiv agiert. Gleichzeitig warnte er vor überzogenen Erwartungen und betonte die Bedeutung menschlicher Interaktion: „Ich mag meine Freunde. Und unterhalte mich gern mit echten Menschen.“ Ein Satz wie ein Gegenprogramm zum Silicon-Valley-Zynismus.

Die Ökonomie der Aufmerksamkeit

Bemerkenswert war auch der medienpolitische Subtext, der durch manche Panels schimmerte. Die große, unausgesprochene Frage: Wie organisiert sich Öffentlichkeit in einer Welt, in der Verifikation algorithmisch, aber Wahrheit manipulierbar wird? Während Plattformen ihre Reichweitenstrategien der Renditelogik opfern, bleibt die Frage offen, wer in Zukunft das Vertrauen der Gesellschaft verdient. Und ob Vertrauen überhaupt noch ein Geschäftsmodell ist.

Auf der Ausstellungsfläche mischte sich Dystopie mit Popkultur. Überdimensionierte Markenstände kämpften um Aufmerksamkeit, während Avatare, Sprachmodelle und virtuelle Zwillinge einen Blick auf das warfen, was als „digitale Identität“ bezeichnet wird – aber oft nur ein kommerzialisiertes Abbild menschlicher Regung darstellt. Der Mensch, so scheint es, wird zur Persona, optimiert für Conversion.

Und Hamburg? Spielte seinen Part wie ein gelassener Gastgeber, der weiß, dass er längst Teil eines globalen Zirkus ist. Die OMR ist nicht mehr nur eine Konferenz. Sie ist ein Seismograph für gesellschaftliche Spannungen im digitalen Raum. Was hier verhandelt wird, ist nicht nur Marketing – sondern der Wandel des öffentlichen Diskurses, der Arbeitswelt, ja, des Selbstverständnisses westlicher Gesellschaften.

Der Soziologe Andreas Reckwitz schrieb einst, das Individuum sei heute eine „unternehmerische Selbstverwertungseinheit“. Die OMR 2025 hat diesen Satz in 3D projiziert. Sie hat gezeigt, wie viel Begeisterung, aber auch wie viel Erschöpfung in dieser neuen Welt steckt. Und sie hat, vielleicht unfreiwillig, die Frage aufgeworfen, wie viel Mensch in einer digitalisierten Gesellschaft eigentlich noch Platz hat.

Ein Festival der Superlative – ja. Aber auch eines, das seine Schattenseiten nicht mehr vollständig mit LED überblenden konnte. Vielleicht ist genau das die Erkenntnis: Dass selbst im Schein der Bildschirme die Suche nach Echtheit bleibt. Und dass Fortschritt nicht nur eine Frage der Technologie ist, sondern des Menschenbilds, das wir uns erlauben.

Fotoquelle: OMR / Julian Huke Photography (www.julianhuke.com)

Total
0
Shares
Prev
Michael Thumann über Russland, Putin und den neuen Eisernen Vorhang
Michael Thumann

Michael Thumann über Russland, Putin und den neuen Eisernen Vorhang

Krieg, Grenzen und Ideologie

Next
Die Kapitulation der Prinzipien
Weißes Haus in Washington D.C.

Die Kapitulation der Prinzipien

Wenn Profit Prinzipien schlägt

Diese Beiträge könnten dir auch gefallen
Abonniere unseren
WHATSAPP
CHANNEL
und erhalte alle Updates direkt:
JETZT FOLGEN!
Schließen