Susann Rehlein

Susann Rehlein über Scham, Sexualität und Lust

Schluss mit dem Stillschweigen

Es gibt wohl kaum einen Bereich des menschlichen Daseins, in dem so viel geschwiegen, so viel projiziert und so wenig verstanden wird wie in der Sexualität. Das Begehren – allgegenwärtig in Werbung, Medien und Popkultur – wird in der persönlichen Praxis erstaunlich oft mit Unsicherheit, Scham und Sprachlosigkeit verbunden. Und das in einer Zeit, in der man per Smartphone binnen Sekunden Zugriff auf jedes denkbare Szenario hat. Die körperlichste aller Erfahrungen bleibt trotzdem oft entkörperlicht – abstrahiert, ritualisiert, von Erwartungen überformt.

Dabei beginnt das Problem früher, als man denkt. „Wir haben es nie gelernt“, heißt es in Susann Rehleins Buch „Ab ins Bett – Sexuelle Späterziehung“. Keine Schule, keine Eltern, keine Gesellschaft hat uns beigebracht, wie Intimität funktioniert, wie man sich selbst begegnet – und dem anderen. Stattdessen ist vieles angelernt: verzerrt durch Pornografie, durch kulturelle Tabus, durch Rollenbilder, die Männer in Leistungsdruck treiben und Frauen zur Zuschauerin ihrer eigenen Lust machen.

Wenn Körper schweigen müssen

„Sex ist unter der Bettdecke“, sagt Rehlein. Sie meint damit nicht nur das schlechte Licht oder das ausgeschaltete Denken. Sie meint das Verstummen, das eintritt, wenn Menschen sich eigentlich begegnen sollten. Die Normen, die dabei wirksam sind, sind älter als die meisten Revolutionen. Kirchengeschichte, Patriarchat, verklemmter Bürgermoralismus – allesamt wirken bis heute nach. Rehlein beschreibt eine Gesellschaft, in der Berührung nicht als Sprache verstanden wird, sondern als Prüfung, in der der Orgasmus das Ziel und nicht der Weg ist.

Sex findet oft unter der Bettdecke statt – im Verborgenen, ohne Sprache, ohne Licht.

Susann Rehlein

„Niemand muss kommen“, sagt sie. Und meint das radikal: Wer immerzu auf den Höhepunkt zusteuere, verpasse die eigentliche Lust – die in der Gegenwart liegt, im Atmen, im Spüren, im Spielen. Rehleins Vorschlag ist nicht eine neue Technik oder die nächste Übung, sondern eine Entideologisierung der Erotik: „Wir begegnen uns nackt in unserer ganzen Unvollkommenheit.“ Dass das schwerfällt, ist Teil des Problems. Dass es sich lohnt, es trotzdem zu versuchen, Teil der Lösung.

Verlernen statt perfektionieren

Was wir als Kinder nicht gelernt haben, müssen wir uns heute mühsam nachträglich aneignen. Rehlein spricht von „sexueller Späterziehung“, und wer das für ein ironisches Wortspiel hält, täuscht sich: Sie meint es ernst. Sie schlägt eine 20-Tage-Masturbations-Challenge vor – nicht zur Selbstoptimierung, sondern um sich selbst besser kennenzulernen. Sie fordert mehr Wissen über Anatomie, mehr Ehrfurcht voreinander, mehr Mut zum Ausprobieren. Und sie warnt davor, mit Bildern aus dem Internet eine Praxis im echten Leben nachstellen zu wollen, die oft mit echter Sexualität wenig zu tun hat: „Die Leute haben keine Lust, sie haben eine Tablette genommen und werden dafür bezahlt.“

Die stärkste Gegenkraft zu diesem Missverständnis sei, so Rehlein, der Humor. Die Fähigkeit, über das eigene Scheitern zu lachen. „Wenn man sagen kann: ‘Hast du mal wieder nicht auf dich aufgepasst’, ist sofort die Scham weg.“ Es ist ein fast therapeutischer Gedanke: Verbindung entsteht nicht durch Perfektion, sondern durch Menschlichkeit. Die Entspannung beginnt mit einem Lächeln.

Ein Gespräch, das bleibt

Susann Rehlein nimmt sich selbst nicht aus. Sie spricht offen über eigene Unsicherheiten, über Scham, über Fehlversuche – nicht, um sich zu entblößen, sondern um einen Raum zu schaffen, in dem Ehrlichkeit wieder möglich ist. Ihr Buch ist kein Ratgeber im klassischen Sinne, sondern ein Weckruf: an Paare, an Einzelne, an eine Gesellschaft, die sich selbst zu selten fragt, was sie eigentlich will. In unserem Gespräch, auf dem dieser Artikel basiert, wurde klar: Sex ist kein technischer Vorgang. Er ist Kommunikation, Spiel, Nähe – und vor allem eine Frage der Haltung.

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