Europa befindet sich an einem Wendepunkt. Nach Jahrzehnten der relativen Stabilität stehen die Staaten des Kontinents vor neuen Herausforderungen, die alte Gewissheiten auf den Prüfstand stellen. Der Krieg in der Ukraine hat uns alle gezwungen, die geopolitischen Realitäten unserer Zeit zu überdenken, und viele der alten Illusionen sind bereits zerbrochen. Es ist die Rede von einer Zeitenwende, doch die Frage, die sich nun stellt, lautet: Wie weit sind wir wirklich in diesem Wandel vorangekommen?
Illusionen der Friedensdividende
In Deutschland und Europa herrschte lange Zeit die Vorstellung, die großen Konflikte der Geschichte seien nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges überwunden. Die Friedensdividende, die seit den 1990er Jahren viele nationale Budgets entlastete, führte zu einer politischen und gesellschaftlichen Entspannung, die uns in trügerischer Sicherheit wiegte. Claudia Oeking, Head of Public Affairs Germany bei Airbus, merkt dazu an: „Wir haben uns dieser Illusionen gerade in Deutschland hingegeben. Und die müssen wir jetzt, und ich finde, das müssen wir schon ein bisschen ernsthafter betreiben, aufarbeiten.“
Der Krieg in der Ukraine zeigt eindrucksvoll, dass Frieden und Sicherheit in Europa nicht selbstverständlich sind. Die militärische Bedrohung durch Russland hat sowohl in den baltischen Staaten als auch in Polen Ängste geweckt, die nur allzu real sind. Während die deutsche Gesellschaft noch zögert, sich aktiv mit der Notwendigkeit einer stärkeren Verteidigung auseinanderzusetzen, sind die Menschen in unseren östlichen Nachbarländern bereits mitten im Krisenmodus.
Zerstreuung und Kleinlösungen in der Rüstungsindustrie
Ein Blick auf die europäische Verteidigungsindustrie zeigt, dass es auch hier Defizite gibt. Während die USA auf standardisierte Plattformen setzen und große Stückzahlen ihrer Rüstungsgüter produzieren, operiert Europa mit einem Flickenteppich an unterschiedlichen Systemen. „Was wir in Europa an unterschiedlichen Panzern und Kampfflugzeugen haben, ist ein Wahnsinn“, so Oeking. Dabei bräuchte es gerade jetzt mehr Effizienz und Zusammenarbeit, um die militärische und sicherheitspolitische Souveränität Europas zu gewährleisten.
Wir müssen wehrhaft sein, nicht mehr in diesem abstrakten Begriff der letzten 30 Jahre, sondern ganz konkret – für den sehr konkreten Fall.
Claudia Oeking
Die Forschung und Entwicklung im Verteidigungssektor leidet unter jahrzehntelangen Restriktionen. Oeking weist darauf hin, dass militärische Forschung an deutschen Universitäten durch sogenannte Zivilklauseln behindert wurde, was den Fortschritt gebremst hat. „Wir haben uns da tatsächlich schlecht aufgestellt,“ sagt sie, „aber da kommen wir hin.“
Verteidigungsfähigkeit als gesellschaftliche Herausforderung
Es geht in der Debatte um Verteidigung nicht nur um militärische Fähigkeiten, sondern auch um die gesellschaftliche Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – innerhalb Europas und darüber hinaus. Oeking sieht dabei klar, dass die Zukunft Europas in einer gemeinsamen Anstrengung liegt: „Wenn wir wollen, dass wir ein aktiver Spieler sind, dann müssen wir uns wahrscheinlich neu aufstellen. Wir müssen uns ganz schnell mit Partnern in Europa zusammentun und sagen, das ist der Kurs.“
Der Ruf nach einem neuen, resilienteren Europa wird immer lauter. Es geht nicht nur um militärische Fähigkeiten, sondern auch um die gesellschaftliche Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – innerhalb Europas und darüber hinaus. Denn ohne Sicherheit, so hat es Bundeskanzler Olaf Scholz treffend formuliert, ist alles andere nichts.
Im Gespräch mit Claudia Oeking wurde deutlich, wie tiefgreifend dieser Wandel sein muss. Sie beschreibt die Notwendigkeit, alte Denkmuster aufzubrechen und sich als Deutschland und Europa neu aufzustellen. „Wir müssen wehrhaft sein,“ sagt sie, „nicht mehr in abstrakten Begriffen, sondern ganz konkret – für die Sicherheit und Zukunft Europas.“