Mario Draghi analysiert die Krise Europas und zeigt Wege aus dem Dilemma: Europas Wirtschaft droht ohne tiefgreifende Reformen der internationale Bedeutungsverlust. Die neue Strategie muss Innovation, Souveränität und Nachhaltigkeit vereinen, um den Weg aus der Krise zu weisen.
Manchmal braucht es einen alten Haudegen, um die Dinge schonungslos auf den Punkt zu bringen. Mario Draghi, einer der erfahrensten und angesehensten Wirtschaftsstrategen Europas, hat erneut seine Stimme erhoben – diesmal nicht als Retter der Währungsunion, sondern als Mahner für die gesamte wirtschaftliche Zukunft der Europäischen Union. Sein jüngster Bericht „The Future of European Competitiveness“ legt schonungslos dar, dass die EU am Scheideweg steht. Entweder gelingt es, mit einer neuen, mutigen Strategie den wirtschaftlichen Niedergang zu stoppen, oder Europa wird in den kommenden Jahrzehnten weiter an Bedeutung und Wohlstand einbüßen.
Europa verliert an Boden
Draghis Diagnose ist nicht neu, doch sie ist detaillierter und präziser als die vieler seiner Vorgänger und Zeitgenossen. Seit der Jahrtausendwende haben die Europäer kontinuierlich an Boden gegenüber ihren Hauptkonkurrenten, den USA und China, verloren. Der wirtschaftliche Abstand hat sich in fast allen entscheidenden Bereichen vergrößert: Produktivität, Innovation, technologische Führung – überall hinkt Europa hinterher. „Die Herausforderung ist existenziell“, warnt Draghi in seinem Bericht. Wenn es nicht gelingt, diese Entwicklung umzukehren, drohen der EU empfindliche Einschnitte bei den sozialen Sicherungssystemen und langfristig ein Verlust an politischem Einfluss.
Die Herausforderung ist existenziell.
Mario Draghi
Der Bericht analysiert vor allem die Versäumnisse der EU im Bereich der Technologie und Digitalisierung. Während die USA und China ihre Dominanz in den Zukunftsindustrien wie Künstliche Intelligenz, Halbleiterproduktion und grüner Technologie weiter ausbauen, ist Europa in einem trägen Industriesystem verhaftet, das keine ausreichende Dynamik entfalten kann. „Wir laufen Gefahr, in den Technologien von gestern stecken zu bleiben“, so Draghi. Europäische Unternehmen investieren viel zu wenig in Forschung und Entwicklung – etwa 270 Milliarden Euro weniger als ihre amerikanischen Pendants im Jahr 2021.
Doch die Ursachen für diesen Rückstand sind vielfältig und tief verwurzelt. Über Jahre hinweg haben zersplitterte Regulierungen, eine komplexe und teure Bürokratie und ein ständiger Streit um nationale Interessen die Innovationskraft Europas ausgebremst. Wenn europäische Startups ihren Sitz verlegen, dann ziehen sie häufig in die USA um – dorthin, wo die Kapitalmärkte tief und die regulatorischen Hürden niedriger sind. Ein beunruhigendes Drittel der „Unicorns“, die in Europa gegründet wurden, haben inzwischen ihre Zentrale auf die andere Seite des Atlantiks verlegt.
Was kann Europa tun? Draghis Drei-Punkte-Plan
Um diesen bedrohlichen Trend umzukehren, fordert der Bericht tiefgreifende Reformen in drei zentralen Bereichen: Innovation, Dekarbonisierung und strategische Souveränität.
- Schließung der Innovationslücke
Die EU muss endlich das Potenzial ihrer Forschungs- und Bildungssysteme nutzen und Innovationen schneller und erfolgreicher in die Wirtschaft tragen. Die Hürden für die Skalierung neuer Technologien und die Etablierung disruptiver Geschäftsmodelle müssen drastisch reduziert werden. Das bedeutet, dass nicht nur mehr in Forschung und Entwicklung investiert werden muss, sondern auch, dass die Rahmenbedingungen für Unternehmen attraktiver gestaltet werden müssen. Das zentrale Problem: Viele Innovationen scheitern an den nationalen Regelwerken oder der mangelnden Bereitschaft, Risiken einzugehen.
Ein weiteres Hindernis ist der Kapitalmarkt. Trotz großer Ersparnisse der EU-Bürger fließt zu wenig Geld in zukunftsorientierte Projekte. Dies liege, so Draghi, an fehlenden europäischen Kapitalmarktstrukturen und einem fragmentierten Finanzsystem. Europa habe große Ideen und Talente, doch diese Potenziale werden durch die fehlende Integration des Binnenmarktes verschenkt.
- Dekarbonisierung als Chance begreifen
Draghis Bericht macht deutlich, dass die Dekarbonisierung nicht nur eine ökologische Notwendigkeit ist, sondern auch eine wirtschaftliche Chance für die EU darstellen kann – wenn sie richtig angegangen wird. Die EU ist bereits jetzt ein weltweiter Vorreiter in den Bereichen Windenergie, Elektrolyse und kohlenstoffarme Kraftstoffe. Doch der Bericht warnt vor übermäßigem Preisdruck durch chinesische Konkurrenz. Um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben, braucht es eine abgestimmte europäische Energiepolitik, die den Vorteil der regionalen Erneuerbaren Energien nutzt und die hohen Energiepreise durch kluge Marktgestaltung senkt.
Denn die Fakten sprechen eine deutliche Sprache: Europäische Unternehmen zahlen immer noch zwei- bis dreimal höhere Strompreise als ihre amerikanischen Mitbewerber. Dies belastet die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie erheblich. Der Bericht schlägt daher vor, die Energieversorgung auf eine neue Grundlage zu stellen, um die Vorteile der Dekarbonisierung an die Industrie und die Bürger weiterzugeben. Andernfalls droht die Abwanderung energieintensiver Industrien und damit ein weiterer Verlust an Arbeitsplätzen und Wertschöpfung.
- Strategische Souveränität sichern
In einer sich verändernden geopolitischen Weltordnung darf Europa nicht länger von wenigen Lieferanten für kritische Rohstoffe und Technologien abhängig sein. Der Bericht fordert eine kohärente Außenwirtschaftspolitik, die strategische Allianzen mit rohstoffreichen Ländern aufbaut und die heimische Produktion von Schlüsseltechnologien wie Halbleitern und Batterien stärkt. Insbesondere die Abhängigkeit von China im Bereich der seltenen Erden und von den USA bei Halbleitern ist für Draghi ein Warnsignal. Diese Abhängigkeiten stellen eine potenzielle Gefahr dar, die sich negativ auf die Sicherheit und Stabilität Europas auswirken könnte.
Draghi schlägt vor, dass die EU eine echte „Wirtschafts-Außenpolitik“ entwickelt, die Handels- und Investitionsabkommen nutzt, um den Zugang zu kritischen Ressourcen zu sichern. Nur wenn Europa als einheitlicher Akteur auftritt, kann es die notwendige Hebelwirkung aufbauen, um seine Interessen durchzusetzen.
Die Uhr tickt – aber handeln die europäischen Regierungen?
Was Draghis Bericht so beunruhigend macht, ist nicht nur die detaillierte Analyse der Probleme, sondern auch die klare Benennung der Risiken. Ohne einen entschlossenen Kurswechsel wird Europa weiter an Einfluss und wirtschaftlicher Stärke verlieren. Die EU befindet sich in einer Phase des Umbruchs: Der Rückgang der Bevölkerung, die alternden Gesellschaften und die zunehmenden finanziellen Belastungen durch Klimawandel und Verteidigungsausgaben stellen die europäischen Regierungen vor schwierige Entscheidungen.
Eine entscheidende Rolle wird dabei der Wille spielen, nationale Egoismen zu überwinden. „Es ist nicht die Frage, ob Europa die Ressourcen hat, um die Wende zu schaffen, sondern ob es bereit ist, sie richtig einzusetzen“, schreibt Draghi. Der Bericht zeigt auf, dass ein Großteil der dringend notwendigen Investitionen nur durch gemeinsame europäische Anstrengungen getragen werden kann. Die oft zitierten „Champions der Industrie“ sind dabei keine Lösung, sondern müssen sich in einen gemeinsamen europäischen Markt einfügen.
Ein Wettlauf gegen die Zeit
Die nächste Dekade wird entscheidend sein für Europas Zukunft. Draghi hält der EU den Spiegel vor und zeigt, dass es nicht die internationale Konkurrenz ist, die den Kontinent schwächt, sondern die eigene Unfähigkeit, die Rahmenbedingungen zu verbessern. Ein vereinter europäischer Wirtschaftsraum mit einem ambitionierten Innovations- und Wachstumsprogramm ist seine Vision. Andernfalls, so prognostiziert Draghi, wird Europa als globaler Akteur in den Hintergrund treten.
Ein nüchterner Realismus durchzieht den Bericht. Doch er lässt auch Raum für Hoffnung: Europa hat in der Vergangenheit mehrfach bewiesen, dass es sich aus Krisen heraus erneuern kann. Doch dafür braucht es politischen Willen, eine klare Strategie und den Mut, unbequeme Entscheidungen zu treffen. Mario Draghi hat Europa noch einmal einen Weckruf verpasst. Ob die politischen Entscheidungsträger diesen Ruf hören und handeln werden, bleibt abzuwarten. Die Zeit läuft.
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