Stephan Guyenet

Stephan Guyenet: Warum werden wir immer dicker?

Der Einfluss des Gehirns auf das Abnehmen

Fettleibigkeit ist eine der größten Gesundheitskrisen unserer Zeit, und doch scheint es keine einfache Lösung zu geben. Die Zahl der Menschen mit Übergewicht steigt, trotz zahlloser Diäten, Fitnessprogramme und Ernährungsratgeber. Neurowissenschaftliche Forschung zeigt, dass das Problem viel tiefer verwurzelt ist: „Unsere Gehirne sind nicht darauf optimiert, in der modernen Essensumgebung ein niedriges Körpergewicht zu halten,“ erklärt Stephan Guyenet, Neurobiologe und Autor des Bestsellers „The Hungry Brain“. Über Jahrtausende hat sich das menschliche Gehirn in einer Umgebung entwickelt, in der Nahrung schwer zu beschaffen war. Heute ist das Gegenteil der Fall: „Nahrung ist überall. Sie ist billig, verfügbar und unglaublich verführerisch. Man bekommt sie an der Kasse im Baumarkt, an der Tankstelle oder aus dem Automaten im Büro.“ Was einst das Überleben sicherte, führt in der modernen Welt zur chronischen Überernährung.

Ein Organ der Widersprüche

Das Gehirn steuert Hunger, Sättigung und Essverhalten – doch nicht mit dem Ziel, uns schlank zu halten. „Es wurde nicht dafür entwickelt, Körperfett zu minimieren, sondern unser Überleben zu sichern,“ sagt Guyenet. Nahrung mit hoher Energiedichte löst eine besonders starke Reaktion im Belohnungssystem aus. „Das Gehirn bewertet bestimmte Lebensmittel als hochattraktiv und will, dass wir sie essen – selbst wenn wir bereits satt sind.“

Das Gehirn bestimmt unser Essverhalten, unsere Kalorienaufnahme und sogar, wie viele Kalorien unser Körper verbrennt. Es spielt eine zentrale Rolle bei der Regulierung von Körperfett.

Stephan Guyenet

Besonders problematisch sind Lebensmittel mit geringer Sättigung pro Kalorie. Hochverarbeitete Produkte wie Süßigkeiten, Softdrinks oder Fast Food liefern viele Kalorien, machen aber kaum satt. „Die Lebensmittel, die wir mit Gewichtszunahme verbinden – Desserts, Pizza, Gebäck, Süßigkeiten – haben eine sehr niedrige Sättigung pro Kalorie,“ so Guyenet. „Im Gegensatz dazu sorgen eiweißreiche, ballaststoffhaltige und wasserreiche Lebensmittel für eine frühere Sättigung.“ Eine Ernährung, die stark auf hochverarbeitete Produkte setzt, begünstigt daher zwangsläufig eine höhere Kalorienaufnahme.

Die trügerische Hoffnung der Selbstkontrolle

Die Vorstellung, dass Gewichtsabnahme nur eine Frage der Disziplin sei, hält sich hartnäckig – doch sie ist falsch. „Das Gehirn ist voller unbewusster Module, die unser Essverhalten steuern,“ erklärt Guyenet. „Wir können nicht einfach entscheiden, keinen Hunger mehr zu haben oder keine Lust auf Süßes zu verspüren.“

Wer Gewicht verliert, setzt eine körpereigene Gegenreaktion in Gang. „Das Gehirn schaltet in einen Starvationsmodus: Hunger steigt, der Stoffwechsel verlangsamt sich, und das Verlangen nach Essen nimmt drastisch zu,“ beschreibt Guyenet. Dieser Mechanismus ist einer der Hauptgründe für den Jo-Jo-Effekt. Neue Medikamente wie GLP-1-Agonisten versprechen, diese Reaktion zu dämpfen, indem sie das Sättigungsgefühl verstärken. Guyenet sieht darin eine pragmatische Lösung, warnt aber: „Das sind technologische Lösungen für ein technologisches Problem. Unsere Essensumgebung hat sich durch Technologie verändert – es ist nur logisch, dass wir versuchen, mit Technologie dagegenzuhalten.“

Genuss vs. Überfluss

Essen ist nicht nur Biologie, sondern auch Kultur. Während in Frankreich und Deutschland geregelte Mahlzeiten eine lange Tradition haben, wird in den USA oft rund um die Uhr gegessen. „In Frankreich gibt es eine klare Struktur: Es wird zu bestimmten Zeiten gegessen, nicht dazwischen. In den USA dagegen ist Snacken rund um die Uhr völlig normal,“ stellt Guyenet fest.

Strukturierte Essgewohnheiten könnten helfen, unbewusstes Überessen zu reduzieren. Wer nur zu festen Mahlzeiten isst und den Fokus auf sättigende Lebensmittel legt, könnte sein Gewicht langfristig besser kontrollieren. Eine allgemeingültige Lösung gibt es jedoch nicht. „Jeder Mensch ist unterschiedlich. Aber wenn ich eine generelle Empfehlung geben müsste, dann wäre es: Konzentrieren Sie sich auf Lebensmittel, die pro Kalorie maximal sättigen.“

Stephan Guyenet hat sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, warum es so schwer ist, Gewicht dauerhaft zu reduzieren. Im Gespräch erläuterte er, wie das Gehirn Essverhalten steuert, warum klassische Diäten oft scheitern und welche neurologischen Mechanismen tatsächlich Einfluss auf unser Gewicht haben. Wer die biologischen Grundlagen von Hunger und Sättigung versteht, kann beginnen, sie in seinem Alltag bewusst zu steuern – auch wenn das eigene Gehirn manchmal andere Pläne hat.

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