Deutschland steht vor gewaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen. Die Konjunktur schwächelt, der Arbeitsmarkt zeigt erste Erosionserscheinungen, die Bildungspolitik ist seit Jahrzehnten reformbedürftig, und die Debatte um Migration läuft oft ins Leere. Die Frage, die sich stellt: Liegt der Kern dieser Probleme in fehlenden finanziellen Mitteln oder an mangelnder strategischer Ausrichtung?
Philippa Sigl-Glöckner, Finanzexpertin und Kandidatin für den Bundestag für die SPD in München, hat eine klare Diagnose: Das eigentliche Problem sei nicht die Knappheit an Mitteln, sondern die Art, wie diese eingesetzt werden. „Wir tun so, als wären wir superarm und schneiden uns alles ab“, sagt sie und verweist auf die ungenutzten Möglichkeiten, die eine durchdachte Finanzpolitik bieten könnte. Ihre These: Deutschland würde sich langfristig selbst schaden, wenn es weiterhin an Investitionen in Bildung, Integration und Infrastruktur spare.
Finanzpolitik als gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe
Die deutsche Finanzpolitik folgt seit Jahren einem Prinzip der Haushaltsdisziplin. Sparsamkeit wird als oberste Maxime verstanden, ungeachtet dessen, dass strategische Investitionen langfristig Wohlstand sichern könnten. „Um die deutschen Finanzen steht es gar nicht schlimm, um die Realwirtschaft aber sehr wohl“, betont Sigl-Glöckner. Die Kernprobleme lägen nicht in der Staatsverschuldung, sondern in mangelnder wirtschaftlicher Zukunftsfähigkeit: fehlende Investitionen in Bildung und Infrastruktur, ein zunehmend unattraktiver Standort für Unternehmen und eine Politik, die kurzfristige Sparziele über langfristige wirtschaftliche Nachhaltigkeit stelle.
Wenn jeder Minister rausgeht und eine andere Interpretation der Lage liefert, dann wird es irre schwer, den Menschen überhaupt noch eine kohärente Politik zu vermitteln.
Philippa Sigl-Glöckner
Besonders die Schuldenbremse, einst als Bollwerk gegen unsolide Haushaltspolitik geschaffen, sei mittlerweile eher ein Hindernis als eine Hilfe. „Momentan können wir ziemlich sicher sagen, dass sie falsch ist, weil die Zinsen niedrig sind, der Investitionsbedarf hoch ist und Wachstumsrisiken existieren.“ Ihre Lösung? Ein flexiblerer Rahmen, in dem jede Bundesregierung selbst festlegt, was nachhaltige Finanzen bedeuten, überprüft von einer unabhängigen Institution.
Bildung: Ein ewiges Problem ohne Lösung?
Ein Paradebeispiel für den Stillstand in der deutschen Politik ist das Bildungssystem. Seit Jahrzehnten diskutiert, jedoch selten reformiert, bleibt die Qualität der Bildung abhängig von Wohnort und Herkunft. „In München haben 55 Prozent der Grundschulkinder eine andere Muttersprache als Deutsch. Wenn wir diese Kinder nicht frühzeitig integrieren und bestmöglich ausbilden, verschlechtern wir unsere wirtschaftliche Perspektive dramatisch“, warnt Sigl-Glöckner. In anderen Ländern, wie Estland, sei es gelungen, durch gezielte Investitionen die Bildungschancen unabhängig von der sozialen Herkunft zu verbessern.
Doch Deutschland hinke hinterher, nicht zuletzt wegen der finanziellen Zuteilung im Bildungssystem. „Wir brauchen dringend mehr Mittel für Vorschulen, Sprachförderung und gezielte Bildungsprogramme. Aber solange Bildungsausgaben als Nebensache betrachtet werden, kommen wir nicht weiter.“
Ein europäischer Blick
In Zeiten geopolitischer Unsicherheit sei es entscheidend, europäischer zu denken, besonders in der Energiepolitik. „Eine europäische Energieunion wäre eine historische Chance. Statt individuell zu agieren, könnten wir uns gemeinsam unabhängig von fossilen Importen machen.“ Doch Europa habe es bislang versäumt, sich geschlossen aufzustellen. Auch hier brauche es strategische Investitionen und politische Weitsicht.
Politik als pragmatische Aufgabe
Sigl-Glöckner ist keine klassische Politikerin, sondern Finanzexpertin mit Erfahrung in internationalen Organisationen. Ihre Sicht auf Politik ist daher pragmatisch: „Man braucht eine starke Geschichte, die eine Bindungskraft hat, um Menschen für eine positive Zukunft zu gewinnen.“ Populismus könne nicht allein mit Sachargumenten begegnet werden, sondern mit einer konsequenten Vision für eine bessere Zukunft.
Ihr Engagement für eine neue Finanzpolitik hat sie letztlich in die aktive Politik geführt. „Ich habe lange gezweifelt, ob ich den Schritt in die Politik machen soll. Aber irgendwann war mir klar: Wenn ich wirklich etwas verändern will, dann muss ich es selbst in die Hand nehmen.“
Fotoquelle: Fionn Grosse