Berlin, ein Ort des ständigen Wandels, eine Stadt, in der Kunst nicht nur Dekoration ist, sondern politisches Statement, historisches Zeugnis und gesellschaftliche Reflexion zugleich. Wer mit Prof. Dr. Peter Raue spricht, taucht tief in diese vielschichtige Welt ein. Der renommierte Jurist und passionierte Sammler kennt die Szene wie kaum ein anderer, hat ihre Höhen und Tiefen erlebt und mitgestaltet.
Seine eigene Leidenschaft für die Kunst begann früh – ausgelöst durch eine Schlüsselerfahrung: eine Picasso-Ausstellung im Haus der Kunst in München. Dort stand „Guernica“, das ikonische Werk, das die deutschen Gräueltaten während des Spanischen Bürgerkriegs anklagt. „Ich konnte mich gar nicht trennen“, erinnert sich Raue. „Es hat mich umgehauen, wie Leid durch einen Pferdekopf dargestellt werden kann.“ Diese Begegnung prägte seinen Blick auf Kunst – nicht als gefällige Ästhetik, sondern als Ausdrucksmittel von Widerspruch und Wahrheit.
Kunst als Spiegel der Gesellschaft
Doch wie sehr beeinflusst Kunst die Gesellschaft tatsächlich? Deutschland, das nach dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich wieder aufblühte, ging lange eher zögerlich mit seiner Vergangenheit um. Raue beschreibt eine Zeit, in der man in Schulen kaum über die NS-Vergangenheit sprach und die bildende Kunst zunächst einen großen Bogen um das Thema machte. Erst später, mit Werken wie Peter Weiss’ „Die Ermittlung“, begann eine breitere künstlerische Aufarbeitung. In der frühen Nachkriegszeit dominierte vielmehr das Bedürfnis nach Nachholung – etwa durch die Präsentation internationaler Kunstströmungen wie der Art Informel oder der französischen Avantgarde.
Dass Kunst eine gesellschaftliche Funktion hat, ist für Raue unbestritten. Und doch sieht er sie in Gefahr. „Berlin ist arm, aber sexy“, zitierte er den früheren Bürgermeister Klaus Wowereit – und ergänzt: „Wir können arm bleiben, aber wir müssen auch sexy bleiben.“ Ein Satz mit Gewicht, denn die Hauptstadt zieht bis heute Kreative aus aller Welt an. Doch steigende Mieten und fehlende Atelierflächen gefährden dieses Ökosystem. „Die Stadtentwicklung hat vieles verschlafen. Wenn wir nicht aufpassen, verlieren wir den Hotspot, den Berlin ausmacht.“
Der Sammler als Erzähler
Raues eigene Sammlung ist keine geplante Kollektion, sondern, wie er es selbst nennt, ein Sammelsurium an Werken, die ihn berühren. Er kauft nur Kunst von lebenden Künstlern, sucht den direkten Austausch, die Auseinandersetzung. „Jeder gute Künstler ist in seinem Bereich zu keinem Kompromiss bereit“, sagt er. Diese Authentizität schätzt er – und sie macht für ihn den wahren Wert eines Werkes aus.
Ich habe nie gesagt: Jetzt werde ich Sammler. Es war einfach die Leidenschaft für Kunst, die mich dahin geführt hat.
Prof. Dr. Peter Raue
Die Kunstszene hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Früher dominierten klassische Sammler, heute sind es oft Startup-Gründer, junge Investoren, die ihre eigene Sprache sprechen. Auch die Digitalisierung hinterlässt Spuren – doch NFTs oder KI-generierte Kunst sind für Raue kein Thema. „Für meine Kunstwelt schließe ich die Augen davor“, sagt er. Die Aura des Originals, das Unikat, das Handschriftliche – all das zählt für ihn mehr als algorithmisch erzeugte Werke.
Ein Leben für die Kunst
Raue hat sich nicht nur als Anwalt einen Namen gemacht, sondern auch als Förderer der Kunst. Der von ihm mitbegründete Verein der Freunde der Nationalgalerie zählt heute über 2.500 Mitglieder und finanziert bedeutende Ankäufe. „Wir wollten lieber 100 Leute, die 1.000 Mark zahlen, als 1.000, die 100 zahlen“, erinnert er sich an die Anfänge – eine Strategie, die aufging. Heute sind solche privaten Förderungen essenziell, denn in Zeiten knapper öffentlicher Kassen trifft es die Kultur oft zuerst. „Ganze Einrichtungen stehen vor dem Ruin, vor allem die junge Szene wird im Stich gelassen.“
Die Kunst bleibt für Raue eine persönliche Sache – und eine, die er mit anderen teilen will. In seiner Kanzlei hängen zahlreiche Werke, die Mitarbeiter dürfen sie selbst auswählen. Manche bleiben Jahrzehnte mit einem bestimmten Bild verbunden und möchten es sogar mitnehmen, wenn sie die Kanzlei verlassen. „Dann weiß ich, da hat etwas gezündet.“
Wie sehr ihn Kunst bewegt, zeigt auch sein letzter Gedanke im Gespräch. Auf die Frage, ob er eine Lieblingsarbeit habe, schüttelt er den Kopf. „Es gibt Künstler, die mir besonders nahe sind, aber ein einzelnes Werk herauszugreifen? Nein. Es sind Erinnerungen an Gespräche, Freundschaften, Trennungen – das Leben ist in den Bildern, und die Bilder sind in meinem Leben.“