Jan Weiler bei Gin And Talk

Jan Weiler über Liebe, Beziehungen und das Leben

Warum es wichtiger ist, Mensch zu sein als zu funktionieren

Von außen betrachtet wirkt das Leben des erfolgreichen Architekten Peter Munk in Jan Weilers neuem Buch „Munk“ wie das eines perfekten Vorzeigemenschen: Anfang 50, beruflich erfolgreich, sportlich, gesund, unabhängig. Doch auf einer Rolltreppe im Zürcher Globus-Kaufhaus erleidet er plötzlich einen Herzinfarkt. Ein Schicksalsschlag, der sein sorgsam aufgebautes Konstrukt zum Wanken bringt und ihn auf eine Reise zu sich selbst zwingt. Munk ist, wie so viele, dem Trugschluss erlegen, dass ein starkes, kontrolliertes Leben auch ein gutes Leben ist. Ein Irrtum, der nicht nur ihn, sondern auch viele Menschen heute in eine existenzielle Sinnkrise stürzt.

Der ständige Kampf um Selbstoptimierung

Die Geschichte von Peter Munk ist mehr als nur die Geschichte eines Individuums. Sie ist ein Spiegel der Gesellschaft, die sich zunehmend im Hamsterrad aus Selbstoptimierung, Leistung und Perfektion verliert. Unsere Zeit, so Weiler, ist geprägt von einer Unfähigkeit, Prioritäten zu setzen und den Blick auf das Wesentliche zu lenken. Wir sind ununterbrochen damit beschäftigt, den Anforderungen der zahlreichen Rollen gerecht zu werden, die das Leben an uns stellt: Partner, Kollege, Konsument, Freund, Nachbar. Doch in diesem Funktionsüberschuss verliert man leicht den Bezug zu sich selbst.

Wir sind in so viele Funktionen eingebaut, dass wir kaum noch Zeit für Selbstwahrnehmung und Reflektion haben.

Jan Weiler

Munk erlebt seinen Herzinfarkt als einen Affront gegen seinen bisherigen Lebensentwurf. Wie konnte ihm das passieren? Er hat sich doch so gut um sich gekümmert, jeden Ratschlag der Gesundheitsapostel befolgt, nie geraucht, nie zu viel getrunken. Diese Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und Realität lässt ihn – wie viele andere – erstarren. Der Herzinfarkt als Vorschlaghammer, der das Selbstbild und die Erwartungen an das Leben gnadenlos zerstört. Es ist ein schmerzhafter Moment der Erkenntnis, dass Leistung und Kontrolle keine Garanten für ein glückliches oder gesundes Leben sind.

Beziehungsbilanz eines Lebens

Munk zieht sich daraufhin in ein luxuriöses Reha-Hotel zurück. Ein Ort, an dem er sich – auf Rat seines Therapeuten – seiner Vergangenheit stellen muss. Dabei wird ihm geraten, seine Beziehungen zu durchleuchten, um herauszufinden, was ihn geprägt und belastet hat. Munk tut dies auf seine eigene Art und Weise, indem er sich auf seine vergangenen Liebesbeziehungen fokussiert. Chronologisch listet er alle Frauen auf, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben, und geht diese nacheinander durch.

Weiler beschreibt die Erinnerungsreise seines Protagonisten als nüchtern und analytisch, fast distanziert. Doch je weiter Munk in seine Vergangenheit eintaucht, desto schmerzhafter wird ihm bewusst, wie intensiv er geliebt und gleichzeitig gelitten hat. Die Erkenntnis, dass er es nie wirklich zugelassen hat, diese Gefühle zu verarbeiten, trifft ihn wie ein zweiter, emotionaler Herzinfarkt. Jede dieser Frauen hat ihn geprägt, jede hat Spuren hinterlassen. Doch nicht die Frage nach der „Wichtigsten“ führt ihn zur eigentlichen Erkenntnis. Es ist vielmehr die Einsicht, dass er immer wieder auf der Suche nach Bestätigung und Selbstaufwertung war, anstatt wahre Nähe zuzulassen.

Die Rückkehr zur Menschlichkeit

Munks Geschichte zeigt deutlich, wie schwer es vielen Menschen heute fällt, mit sich selbst und ihren Mitmenschen wirklich in Kontakt zu kommen. Weiler reflektiert in seinem Buch die Tendenz zur Pathologisierung in der Gesellschaft: Wir verfallen dem Zwang, Beziehungen in Schubladen zu stecken – toxisch, narzisstisch, Borderline –, ohne zu hinterfragen, ob nicht einfach das Leben selbst der schwierigste Part in jeder Beziehung ist. Eine schnelle Diagnose bietet jedoch nur scheinbare Sicherheit und erlaubt es, Verantwortung und Auseinandersetzung zu vermeiden.

Wir pathologisieren heute fast jede Beziehung – anstatt zu akzeptieren, dass andere einfach anders sind.

Jan Weiler

Weilers pointierte Erzählweise lenkt den Blick auf das Wesentliche: Auf den Versuch, das Leben mit mehr Leichtigkeit, Akzeptanz und Toleranz zu leben. Seine Botschaft ist klar: Wir müssen nicht in allem perfekt sein und sollten es auch nicht anstreben. Vielmehr geht es darum, die eigene Verwundbarkeit anzuerkennen und – wie Peter Munk es letztendlich tut – den Menschen in uns und anderen wieder zu entdecken.

Im Gespräch mit dem Autor zeigt sich Jan Weiler selbst als reflektierter Beobachter dieser gesellschaftlichen Entwicklung. „Toleranz ist aus der Mode gekommen“, sagt er. „Die meisten Menschen suchen eher nach jemandem, von dem sie nichts lernen müssen und der halt genauso tickt wie sie.“ Eine treffende Analyse, die den Wandel in unserem Umgang mit zwischenmenschlichen Beziehungen pointiert zusammenfasst. Denn nicht das Funktionieren, sondern das Menschsein sollte im Mittelpunkt stehen.

„Wir alle sind die Summe unserer Beziehungen“, sagt Munks Therapeut. Doch was bleibt, wenn wir vergessen, was uns wirklich geprägt hat? Vielleicht die Erkenntnis, dass wir nicht lernen müssen, perfekt zu funktionieren – sondern nur zu leben.

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