Sie geben sich staatsmännisch. Der neue Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD trägt den Titel „Verantwortung für Deutschland“ – ein Titel, der nach Pathos klingt und doch die Schwäche kaschiert, aus der er geboren wurde. Es ist ein Pakt der Etablierten, eine Allianz der Erschöpften, die sich anschicken, dieses Land mit einem 146 Seiten starken Katalog der Tatkraft in eine neue Stabilität zu führen. Doch was als großer Wurf erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als mühselig gefügtes Mosaik aus Kompromissen, Ankündigungen und alten Rezepten in neuer Verpackung.
Es ist viel von Erneuerung die Rede – von einem wirtschaftlichen Aufbruch, einem handlungsfähigen Staat, digitaler Verwaltung, sicherer Migration, bezahlbarem Wohnen, sauberer Energie und verlässlicher Verteidigung. Die Sprache ist technokratisch, die Botschaft versöhnlich: Diese Koalition will das Gemeinwohl neu verankern, das Vertrauen in den Staat zurückgewinnen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt festigen. Doch zwischen den Zeilen regiert die Angst vor dem Kontrollverlust. Es ist ein Vertrag, der zu oft auf Verwaltung statt auf Vision setzt.
Ein Staat als Sanierungsfall
Die Diagnose ist präzise: marode Brücken, unpünktliche Züge, überlastete Verwaltungen, verzweifelte Bürger. Die Therapie: Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierungspläne, Planungsbeschleunigung. Das klingt gut – wäre da nicht die lähmende Erfahrung, dass schon viele Regierungen genau dies versprochen haben. Was diese Koalition versäumt, ist die Frage nach dem Vertrauen: Warum glauben so viele Menschen dem Staat nicht mehr? Warum werden Bürgerrechte zunehmend als störend empfunden, wo sie doch die Grundlage jeder Demokratie sind?
Die Koalition will den Staat „digitaler und effizienter“ machen – doch sie bleibt die Antwort schuldig, wie sie seine Seele bewahren will. Der Sozialstaat wird als Maschine beschrieben, die besser abgestimmt werden müsse. Beratung aus einer Hand, Algorithmen zur Anspruchsprüfung, Daten als Leistungsindikatoren – das klingt nach Rationalisierung und nicht nach Würde.
Arbeit und Strafe
Besonders deutlich wird das Misstrauen im Kapitel über die neue Grundsicherung: Wer zumutbare Arbeit mehrfach verweigert, dem sollen künftig alle Leistungen gestrichen werden – bis hin zum vollständigen Leistungsentzug. Das ist mehr als nur „Fördern und Fordern“; das ist eine stille Rückkehr zum Strafgedanken im Sozialstaat. Es ist das Bild vom trägen Bürger, das wieder durch die Hintertür kommt – in einem Land, in dem Millionen Menschen arbeiten und dennoch kaum über die Runden kommen. Diese neue Härte im Ton verrät eine tiefe Verunsicherung: über das, was unsere Gesellschaft noch zusammenhält.
Klimaschutz ohne Kompass
Auch der Klimaschutz leidet unter diesem Vertrag an strategischer Unschärfe. Die Koalition bekennt sich zu den Zielen des Pariser Abkommens, will Klimaneutralität bis 2045 – und baut doch auf Gasimporte, CCS-Technologie und neue Kraftwerke. Die Widersprüche werden mit dem Begriff „Technologieoffenheit“ übertüncht, doch dahinter verbirgt sich oft das Zögern, klare Prioritäten zu setzen. Das Heizungsgesetz wird abgeschafft, das neue Gebäudeenergiegesetz soll „einfacher und technologieoffen“ werden. Die Richtung bleibt unklar.
Europa als Hintergedanke
Die Europapolitik bleibt merkwürdig blass. Zwar gibt es Absichtserklärungen zur Vertiefung der Union, zur Verteidigungspolitik, zur Wettbewerbsfähigkeit. Aber wo ist die europäische Idee, die Vision, die über Technokratensätze hinausreicht? Während die Welt sich neu ordnet, Russland Krieg führt und die USA auf einen autoritären Rückfall zusteuern, bleibt Europas Rolle im Vertrag Nebensache – und das ist bezeichnend für eine Koalition, die sich selbst als Bollwerk gegen die Extreme versteht, aber nicht wagt, die Geschichte weiterzuerzählen.
Stärke, die verteidigen soll, was längst bröckelt
In Zeiten globaler Erschütterungen ist Sicherheit mehr als eine Frage der Aufrüstung. Doch der Koalitionsvertrag setzt genau dort seinen Schwerpunkt: mehr Geld für die Bundeswehr, ein Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe, Ausweitung der Rüstungsproduktion, CCS auch für militärische Emissionen. Verteidigungspolitik wird zur Industriepolitik, NATO-Kompatibilität zum Argument für milliardenschwere Programme. Der Ton ist entschieden, fast trotzig: Stärke soll Frieden sichern – eine Formel, die vergessen macht, dass es ohne politische Verständigung keine echte Stabilität gibt. Die geopolitische Lage wird analysiert, Russland als Bedrohung benannt, der Schulterschluss mit der Ukraine bekräftigt. Und doch bleibt das außenpolitische Kapitel technokratisch und blutleer. Es fehlt die ethische Reflexion, der Kompass, der zwischen Abschreckung und Diplomatie navigiert. Der sicherheitspolitische Apparat wird ausgebaut, doch was die Gesellschaft schützen soll, wird kaum benannt: Freiheit, Offenheit, Vertrauen in die internationale Ordnung. Die Koalition plant mit Stahl und Silizium – aber nicht mit dem Geist Europas.
Ein Vertrag, der Vertrauen sucht
Am Ende ist dieser Koalitionsvertrag ein Spiegel des politischen Moments: bemüht um Verlässlichkeit, voller Detailarbeit, mit bemerkenswertem Pragmatismus – und doch merkwürdig visionslos. Die drei Parteien der Mitte haben sich gefunden, weil sie sonst nichts mehr gefunden hätten. Sie versprechen Stabilität in unsteter Zeit. Ob das reicht, um Vertrauen zurückzugewinnen, wird sich nicht an den Texten entscheiden – sondern an den Taten.