Charlotte Knobloch, geboren 1932 in München, kennt den Hass, der Leben zerstört. Sie hat ihn am eigenen Leib erfahren – als Kind im nationalsozialistischen Deutschland, versteckt auf einem Bauernhof, von einer katholischen Bäuerin als uneheliches Kind ausgegeben. Heute ist sie 92, doch die Erinnerungen sind frisch: „Ich habe es erlebt. Ich habe es nicht gelesen. Ich habe es erlebt.“ Knobloch ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und war von 2006 bis 2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Ihr Leben ist der Kampf gegen Antisemitismus, ihre Mission die Erinnerung. Wir treffen uns in einem Besprechungsraum am Jakobsplatz, direkt neben der Neuen Hauptsynagoge Ohel Jakob, die am 9. November 2006 eingeweiht wurde. Knobloch spricht über den Zustand der Welt und darüber, wie es sich anfühlt, wenn alte Geister wiederkehren.
Ein wiederkehrender Hass
„Antisemitismus ist keine deutsche Erfindung,“ sagt sie, während sie sich an ihre Kindheit erinnert. Doch die Dimensionen des Hasses, wie sie sie heute sieht, überraschen selbst sie. „Damals war es Hass, aber es war anders. Heute ist es wie ein globaler Virus.“ Sie spricht über Familien, die Angst haben. Angst, ihre Kinder auf die Straße zu schicken. Angst, sich öffentlich als jüdisch zu erkennen zu geben. „Angst verändert Menschen. Und ich weiß, was das bedeutet. Ich habe diese Angst selbst erlebt.“
Ich habe diese Angst selbst erlebt.
Charlotte Knobloch
Knobloch erzählt von Familien, die überlegen, Deutschland zu verlassen. Doch die Frage bleibt: Wohin? „Das Wort „besser“ gibt es in dieser Zeit nicht mehr,“ sagt sie. Der Staat Israel bleibt für sie ein Anker der Hoffnung. „Wenn es Israel damals schon gegeben hätte, wären viele Leben gerettet worden. Aber das ist Vergangenheit. Heute müssen wir die Gegenwart und die Zukunft gestalten.“
Populismus und Politik
Das Gespräch kommt auf die aktuelle politische Lage. Knobloch lehnt sich vor, ihre Stimme wird eindringlicher: „Populismus hat fast alle Parteien erreicht. Es ist nicht mehr nur die AfD, die mit Hass und einfachen Antworten spielt. Das macht mir große Sorgen.“ Besonders die neu gegründete Partei von Sahra Wagenknecht sieht sie kritisch: „Eine interessante Politikerin, keine Frage. Aber sie bedient Themen, die den Populismus stärken. Das ist gefährlich.“
Sie spricht über die bevorstehenden Wahlen und die Gefahren, die sie darin sieht. „Die Hasslieder dringen in der kurzen Zeit bis zur Wahl vielleicht nicht so tief, aber sie sind da. Und wenn wir nicht aufpassen, wird dieser Hass unsere Gesellschaft weiter zersetzen.“ Besonders die Jugend liegt ihr dabei am Herzen: „Wir müssen die jungen Menschen erreichen. Die 20- bis 30-Jährigen haben wir vielleicht schon verloren, aber die noch Jüngeren, die Jugend, die müssen wir begeistern.“
Erinnerung als Aufgabe
Ein zentraler Punkt ihres Engagements ist die Erinnerungskultur. „Wir haben so viele Zeitzeugen verloren. Es liegt an uns und den nachkommenden Generationen, ihre Geschichten weiterzugeben.“ Sie erzählt von Eva Umlauf, einer Holocaust-Überlebenden, der sie geraten habe, öffentlich über ihre Erfahrungen zu sprechen. „Viele haben Jahrzehnte geschwiegen. Sie wollten ihre Kinder nicht belasten. Aber ohne diese Stimmen wird die Geschichte verblassen.“
Knobloch selbst engagiert sich aktiv in Bildungsprojekten. „Die jungen Menschen sind interessiert. Sie wollen wissen, warum die Vergangenheit so wichtig ist. Dieses Interesse müssen wir nutzen.“ Doch sie warnt auch vor einer zunehmenden Ignoranz. „Wir leben in einer Zeit, in der Verschwörungstheorien Hochkonjunktur haben. Die Aufklärung ist essenziell. Wir müssen den jungen Menschen zeigen, dass sie Teil dieser Gesellschaft sind und sie gestalten können.“
Hoffnung und Verantwortung
Trotz allem bleibt Charlotte Knobloch optimistisch. „Ich sehe viele Menschen, die uns unterstützen wollen. Das gibt mir Hoffnung. Wir müssen nur die richtigen Wege finden, um diese Energie zu nutzen.“ Sie fordert mehr Mut von der Gesellschaft: „Es braucht Mut, aufzustehen und sich gegen den Hass zu stellen. Aber wenn wir das tun, können wir etwas bewegen.“
Ihr Appell richtet sich auch an die nicht-jüdische Gesellschaft: „Wenn sie mit uns gehen wollen, freuen wir uns über jeden. Aber es muss eine ehrliche Unterstützung sein. Keine Symbolpolitik, sondern echtes Engagement.“
Ein Aufruf zur Aktion
Am Ende des Gesprächs wird deutlich: Charlotte Knobloch ist eine Mahnerin, aber keine Fatalistin. Sie hat den Mut, die schwierigen Fragen zu stellen, und die Weisheit, einfache Antworten zu meiden. „Wir müssen die Menschen erreichen. Wir müssen wieder Mut fassen. Und wir müssen den jungen Menschen zeigen, dass es sich lohnt, für ein besseres Miteinander zu kämpfen.“ Ihre Worte sind ein Weckruf – einer, den niemand ignorieren sollte.