Es gibt Momente, in denen politische Programme mehr über eine Gesellschaft aussagen als die Parolen der Wahlkampfreden. Das Wahlprogramm ist der Ort, an dem eine Partei ihre Werte, ihre Ziele und ihre Vision für die Zukunft formuliert. Doch was geschieht, wenn die Grenzen zwischen den Programmen zweier Parteien unscharf werden, die unterschiedlicher kaum sein sollten?
Alice Weidel, Vorsitzende der AfD, erhebt seit Wochen den Vorwurf, die Union habe ihr Wahlprogramm abgeschrieben. Eine provokative Aussage, die leicht als populistisches Geplänkel abgetan werden könnte – wäre da nicht ein Kern Wahrheit, der bei genauer Betrachtung alarmierend wirkt.
Konservative Gemeinsamkeiten oder kalkulierte Strategie?
Die CDU/CSU und die AfD verbindet vieles, was auf den ersten Blick konservativ und erst einmal vergleichsweise harmlos wirkt: die Forderung nach einer restriktiveren Migrationspolitik, einer stärkeren Betonung nationaler Interessen und der Ablehnung vermeintlicher „Ideologien“ wie Gender-Mainstreaming. Doch während die Union diese Punkte mit technokratischer Sachlichkeit präsentiert, versieht die AfD sie mit radikaler Rhetorik und gesellschaftlichem Kulturkampf.
Die Forderungen nach schnelleren Abschiebungen, verschärften Grenzkontrollen und einer Ausweitung sicherer Herkunftsländer sind nahezu identisch. Der Unterschied liegt im Ton: Die CDU/CSU spricht von „Steuerung“ und „Ordnung“, während die AfD den „Schutz vor Überfremdung“ propagiert. Doch das Ergebnis bleibt ähnlich: eine Politik, die nicht Integration, sondern Abschottung priorisiert.
Energiepolitik: Gemeinsame Skepsis, unterschiedliche Ziele
Auch in der Energiepolitik scheint sich eine ideologische Nähe anzudeuten. Die CDU/CSU fordert eine technologieoffene Klimapolitik, die Kernenergie und Wasserstoff einschließt, während die AfD auf fossile Energieträger und den Komplettausstieg aus der Energiewende setzt.
Was beide eint, ist die Ablehnung der strikten Klimavorgaben der Ampelregierung. Die Union möchte diese flexibler gestalten, die AfD will sie vollständig abschaffen. Der Unterschied ist hier weniger programmatisch als graduell: Die AfD macht keine Kompromisse, die Union bemüht sich um eine moderate Verpackung.
Gesellschaftspolitik: Rückschritt als Fortschritt?
Die Nähe wird besonders in der Gesellschaftspolitik deutlich. Beide Parteien propagieren das Leitbild der traditionellen Familie und lehnen eine „ideologische Überformung“ durch Gender-Debatten ab. Die AfD spricht offen von einer „Rückkehr zu deutschen Werten“, die CDU/CSU vermeidet diesen Begriff, verfolgt aber ähnliche Ziele, etwa durch die Betonung klassischer Rollenbilder.
Diese ideologische Annäherung birgt Sprengstoff für die politische Mitte. Sie vermittelt konservativen Wählern, dass ihre Anliegen bei der AfD ebenso gut aufgehoben sind – oder gar konsequenter vertreten werden.
Die Normalisierung des Radikalen
Die Union ist in einem Dilemma. Sie versucht, Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen, die sich in den letzten Jahren der AfD zugewandt haben. Doch je näher sie sich programmatisch an die AfD annähert, desto größer wird die Gefahr, dass sie die radikalen Positionen der Rechtspopulisten salonfähig macht.
Hier liegt die eigentliche Gefahr: Wenn die Grenzen zwischen konservativen und rechtspopulistischen Positionen verschwimmen, wird die AfD gestärkt – nicht geschwächt. Die politische Mitte verliert an Klarheit, und die Demokratie droht, ihren Kompass zu verlieren.
Eine politische Gratwanderung
Die CDU/CSU steht an einem Scheideweg. Will sie die Mitte stärken, oder will sie sich weiter nach rechts bewegen, um die AfD-Wähler zurückzugewinnen? Die Antwort auf diese Frage wird nicht nur die Zukunft der Union, sondern auch die politische Kultur Deutschlands entscheidend prägen.
Alice Weidels Behauptung, die Union habe abgeschrieben, ist weniger eine Anklage als ein Symptom. Es zeigt, wie sehr sich die politische Landschaft verändert hat – und wie gefährlich es ist, wenn demokratische Parteien beginnen, die Sprache und Forderungen des rechten Rands zu übernehmen.
Ein Wahlprogramm ist mehr als ein Papier. Es ist ein Versprechen. Und dieses Versprechen darf nicht sein, die Demokratie zu gefährden, um Macht zu sichern.