Prof. Dr. Hannes Schammann

Hannes Schammann: Haben wir einen Migrationsnotstand?

Und wo liegen die Herausforderungen tatsächlich?

Deutschland spricht über Migration. Lautstark, emotional, oft mit dem Eindruck, dass das Land an der Belastungsgrenze steht. Der politische Diskurs ist geprägt von Schlagwörtern wie „Asylchaos“ und „Zustrombegrenzung“. Doch wie groß ist die Herausforderung wirklich? Und ist es tatsächlich Migration, die die größten Probleme verursacht, oder liegt das Problem eher in der Art und Weise, wie der Staat mit Integration umgeht?

Prof. Dr. Hannes Schammann, Migrationsforscher an der Universität Hildesheim, beschreibt die aktuelle Lage als paradox: „Wir haben eine Debatte, die sich überschlägt, die atemlos ist, während die tatsächlichen Asylantragszahlen eher sinken.“ Er verweist darauf, dass Deutschland in den letzten Jahren enorme Fortschritte im Management von Migration gemacht hat: „Ohne die Strukturen, die nach 2015 aufgebaut wurden, hätten wir 2022 nicht innerhalb weniger Monate eine Million Menschen aus der Ukraine aufnehmen können.“

Tatsächlich zeigen die Zahlen ein anderes Bild. Die Zahl der Asylanträge in Deutschland ist zuletzt gesunken. Die vielfach heraufbeschworene Überforderung der Kommunen entpuppt sich als ein komplexes Phänomen: Während einige Städte tatsächlich Schwierigkeiten bei der Unterbringung haben, berichten andere von einem funktionierenden System. Eine Untersuchung zur Lage der Kommunen ergab, dass sich 60 Prozent der Städte und Gemeinden zwar herausgefordert, aber nicht überfordert fühlen. Der oft zitierte Notfallmodus betrifft eine Minderheit.

Die größte Überforderung findet nicht in den Unterkünften statt, sondern in den Ausländerbehörden – und die sind flächendeckend heillos überfordert.

Prof. Dr. Hannes Schammann

Die eigentliche Überforderung findet woanders statt: in den Ausländerbehörden. Dort, wo Aufenthaltstitel vergeben und verlängert werden, hat sich die Arbeitsbelastung in den letzten Jahren dramatisch erhöht. „Die Zahl ausländischer Staatsbürger in Deutschland hat sich verdoppelt, doch das Personal ist nahezu gleichgeblieben“, erklärt Schammann. „Die Behörden sind heillos überfordert, die Fluktuation ist hoch, und viele Stellen bleiben unbesetzt.“ Unattraktive Gehaltsstrukturen, hoher Krankenstand, eine immer komplexere Rechtslage – all das hat dazu geführt, dass viele Behörden am Limit arbeiten. Es sind nicht die Turnhallen mit Geflüchteten, sondern die überforderten Verwaltungen, die eine echte Krise darstellen.

Ein System, das sich selbst blockiert

Migration wird oft als eine Frage der Steuerbarkeit betrachtet: als könnte man Menschenströme wie Wasser regulieren. Doch das ist eine Illusion. Das europäische Asylsystem basiert auf Regeln, die kaum noch greifen. Die Dublin-Verordnung, nach der das Erstaufnahmeland zuständig ist, war von Beginn an realitätsfern. Die Mittelmeerstaaten haben das Verfahren oft unterlaufen, indem sie Geflüchtete nicht registrierten. Deutschland, das lange auf diese Regelung setzte, musste 2015 feststellen, dass eine rein formale Zuständigkeitsregel nicht funktioniert.

Der Versuch, Migration durch Abschottung zu kontrollieren, treibt paradoxe Blüten. Das geplante Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) soll mehr Ordnung schaffen, aber Kritiker befürchten, dass es zu neuen humanitären Krisen an den EU-Außengrenzen führt. Lager, in denen Menschen monatelang auf Entscheidungen warten, bergen das Risiko von Eskalationen. „Wir haben keine vernünftige europäische Verteilung, und das wird uns auf die Füße fallen“, warnt Schammann. „Die Dublin-Regelung hat nie wirklich funktioniert, und jetzt fehlt eine klare Alternative.“

Die eigentliche Herausforderung: Integration

Die Debatte um Migration verkennt oft, dass Integration die größere Herausforderung ist. Wer bleibt, muss nicht nur untergebracht, sondern in den Arbeitsmarkt integriert werden. Theoretisch haben Asylsuchende relativ früh Zugang zur Erwerbsarbeit. Doch in der Praxis verhindern unsicherer Aufenthaltsstatus, langwierige Verfahren und mangelnde Anerkennung von Qualifikationen, dass sich Menschen eine Perspektive aufbauen. „Je mehr Unsicherheit, desto langsamer die Integration“, betont Schammann. „Wenn man nicht weiß, ob man bleiben darf, dann setzt man sich nicht mit vollem Engagement auf das Ankommen ein.“

Gleichzeitig zeigt die Forschung: Die Angst vor Kriminalität durch Migranten ist oft gefühlt, nicht real. Insgesamt sind die Kriminalitätszahlen stabil, auch wenn die mediale Aufmerksamkeit für einzelne Fälle ein anderes Bild zeichnet. Rechtsextreme Gewalt nimmt hingegen messbar zu. Trotzdem werden bestimmte Gruppen überproportional als Bedrohung dargestellt, während der eigentliche gesellschaftliche Sprengstoff oft woanders liegt.

Ein politischer Dauerbrenner

Migration ist eines der wenigen Politikfelder, das nie abschließend gelöst werden kann. Es bleibt eine Daueraufgabe, in der nationale Interessen, europäische Realitäten und globale Krisen ineinandergreifen. Die derzeitige Debatte ist daher weniger von realen Zahlen bestimmt als von einer politischen Logik: Wer Migration als Krise beschreibt, kann Maßnahmen zur Begrenzung fordern und damit ein Zeichen der Handlungsfähigkeit setzen. Doch wer wirklich nach Lösungen sucht, muss sich auf die Integration konzentrieren, nicht auf das Schließen von Grenzen.

Mit Blick auf die Zuzüge aus dem Ausland haben wir keine akute Notlage – unsere Herausforderungen liegen in der Integration.

Prof. Dr. Hannes Schammann

Die Einschätzungen von Prof. Dr. Hannes Schammann unterstreichen diesen Befund: „Wir haben vermutlich eher ein Integrationsproblem als ein grundsätzliches Migrationsproblem“, sagt er. „Die Herausforderungen liegen in Verwaltung, Bildung und Sozialstrukturen. Doch stattdessen diskutieren wir über Abschottung.“ Eine Debatte, die oft an den eigentlichen Problemen vorbeigeht.

Fotoquelle: Oliver Look

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